Was niemals geschah by Holt Anne

Was niemals geschah by Holt Anne

Autor:Holt, Anne [Holt, Anne]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00


Sie hätte sich ein anderes Hotel suchen sollen, das SAS-Hotel zum Beispiel, mit dem Arne Jacobsen-Design und dem diskreten, weltgewandten Personal. Dort gab es fast alles unter einem Dach, und dann hätte sie das Haus nicht zu verlassen brauchen. Kopenhagen war eine norwegische Stadt, viel zu norwegisch, heimgesucht von biertrinkenden Mannsbildern mit blödsinnigen Kopfbedeckungen und Frauen mit Einkaufstüten und billigen Sonnenbrillen. Wie ein vom Instinkt getriebener Lachsschwarm strömten sie auf dem Rathausplatz hin und her, zwischen Tivoli und Strøget, immer Tivoli oder Strøget, als bestünde Kopenhagen nur aus einem einzigen offenen Platz mit einem Vergnügungslokal am einen und einer verdreckten Einkaufsstraße am anderen Ende.

Sie blieb auf ihrem Zimmer. Selbst jetzt, wo die Februarkälte vom Øresund hereinzog, wimmelte es in Kopenhagen von Norwegern. Sie shoppten und soffen und drängten sich in verräucherten Kneipen zusammen, sie aßen Frikadellen und sehnten sich schon nach ihrem nächsten Besuch, im Frühling, wenn das Bier im Freien genossen werden konnte und der Tivoli endlich für die Saison öffnete.

Sie wollte nach Hause.

Nach Hause. Überrascht erkannte sie, daß Villefranche ihr Zuhause war. Sie mochte die Riviera nicht. Das nun wirklich nicht. Sie hatte sie früher nicht gemocht.

Alles war so neu.

Ich bin wiedergeboren, dachte sie und lächelte über dieses Klischee. Ihre Finger fuhren über ihren Bauch. Der war jetzt straffer oder jedenfalls flacher. Sie lag nackt auf dem Bett, auf der Decke. Die Samtvorhänge waren zurückgezogen. Nur die leichten, halb durchsichtigen Gardinen hingen zwischen ihr und jemandem, der vielleicht dort draußen war. Wenn jemand hereinschauen wollte, wenn auf der anderen Straßenseite jemand stand, hinter einem Fenster im ersten Stock oder im zweiten, wenn jemand sie wirklich sehen wollte, dann wäre sie sichtbar. Es zog vom Fenster her. Sie streckte sich. Die Gänsehaut war unter ihren Fingerspitzen deutlich zu fühlen, als sie über ihren Arm strich. Braille, dachte die Frau: Ihr neues Leben stand in Blindenschrift auf ihrer Haut geschrieben.

Sie wußte, daß sie jetzt Risiken einging. Niemand kannte sich damit besser aus als sie, und sie hätte sich den sichersten Weg aussuchen können, um weiterzugehen.

Der Erste war perfekt. Unbestreitbar.

Aber das Sichere wurde bald zu sicher. Das hatte sie begriffen, kaum daß sie in das Haus an der Baie des Anges zurückgekehrt war.

Die Unfreiheit des Langweiligen, das Lähmende des Risikofreien, das war etwas, worüber sie niemals nachgedacht hatte und woran sie deshalb nichts ändern konnte. Das hatte sich erst geändert, als sie endlich aufgewacht war und aus einem mit Routine und passiven Pflichten gepolsterten Dasein ausgebrochen war, wo sie nie mehr als das getan hatte, wofür sie bezahlt wurde. Nie mehr, nie weniger. Langsam türmten die Tage sich auf. Wurden zu Wochen und Jahren. Sie wurde älter. Immer tüchtiger. Sie wurde fünfundvierzig Jahre alt und war dabei, sich zu Tode zu langweilen.

Das Gefährliche gab neues Leben. Die Angst hielt sie jetzt wach. Die Furcht ließ ihren Puls schlagen. Die Tage jagten dahin und verlockten sie dazu, hinterherzulaufen, glücklich und voller Todesangst, wie ein Kind, das einen entlaufenden Zirkuselefanten verfolgt.

Und du stirbst so langsam, daß du glaubst, du lebst, dachte die Frau und versuchte, sich an dieses Gedicht zu erinnern.



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